Schuld und Verantwortung im Bereich der Gewaltkriminalität


Große Fragen, philosophische Betrachtungen und ein starker Lösungsansatz.

Die nackten Zahlen

2023 wurden in Deutschland mehr als 255 000 Menschen Opfer von versuchter oder vollendeter Gewaltkriminalität.

20 Prozent der Betroffenen waren Kinder oder Jugendliche.

Insgesamt belegt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg der Gewaltkriminalität um mehr als 8 Prozent.

Auch im - getrennt erfassten - Bereich der häuslichen Gewalt stiegen die Zahlen 2023 eklatant.

Mehr als 256 000 Gewaltdelikte wurden hier zur Anzeige gebracht.

Groß angelegte Dunkelfeldstudien der EU und des Weißen Rings lassen derweil vermuten, dass nur zwischen 15 und 20 Prozent der tatsächlichen Gewalttaten im sozialen Nahraum überhaupt angezeigt und damit offiziell erfasst werden, so dass die reale Anzahl der Betroffenen bis zu fünfmal höher liegen könnte.

Zurück zu den Neandertalern

Da werden wir nun immer fortschrittlicher. Wir fliegen zum Mond und vielleicht demnächst zum Mars.

Wir bewegen Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit (naja, zumindest gefühlt) durchs Netz.

Wir sind heute mal in Köln und morgen in New York.

Wir haben die Option, alles aus unserem Leben zu machen, alles zu werden, alles zu (er)schaffen

Und dann dies. Zurück gebeamt zu den Neandertalern.

In ein Entwicklungsstadium, in dem nur doch das Limbische System zu reagieren scheint. Kampf, Erstarren oder Flucht.

Das Thema Gewalt. Wie passt dieses zu unserem scheinbarem Fortschritt?

Wie fügt es sich ein in unsere spannenden Lebensentwürfe?

Wie begrenzt es unsere persönlichen Entwicklungen?

Fakt ist: Millionen Menschen in Deutschland erfahren jedes Jahr Gewalt.

Durch fremde Menschen. Durch bekannte oder (ehemals) geliebte Menschen. Durch Menschen.

Und da stellt sich mir die Frage:

Wie sicher fühlst du dich eigentlich in deinem Leben?

Meinst du, dass du die Menschen, die du liebst, vor Gewalterfahrungen schützen kannst?

Wer kann überhaupt für Sicherheit sorgen?

Vertraust du hier auf die Institutionen Polizei und Justiz?

Gewalt ist wählerisch. Oder nicht?

Als Ausbilderin für taktische Selbstverteidigung bin ich immer wieder überrascht, wie viele Menschen die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt in ihrem Leben vermeiden.

Ein wenig erinnert es mich an das Versteckspiel sehr kleiner Kinder, die ihre Hände vor die eigenen Augen halten und (noch) vollkommen davon überzeugt sind, die anderen Menschen sähen sie nicht...da sie selbst nichts sehen.

Doch Gewalt ist nicht blind.

Und Gewalt unterscheidet nicht zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, schön und hässlich, dick und dünn.

Gewalt wählt bevorzugt die Unvorbereiteten.

Denn Gewalt ist in sich selbst schlüssig.

Gewalt trägt die Gewissheit des Sieges in sich.

Wer Gewalt wählt, traut es sich zu.

Wer Gewalt einsetzt, ist überzeugt, sein Ziel zu erreichen.

Gewalt ist jedoch keine individuelle Eigenschaft. So wie ein Mensch groß oder klein ist oder blond oder brünett.

Gewalt ist ein gewähltes Verhalten.

Die Wahl könnte immer auch anders ausgehen...wenn die Bedingungen in diesem Moment, an diesem Ort, andere wären.

Der Einsatz von Gewalt geht immer auch einher mit der Frage der Wahrscheinlichkeiten.

Wie wahrscheinlich ist es für den Täter, dass er mit Gewalt sein Ziel erreichen wird, ohne selbst zu hohe Kosten tragen zu müssen?

Viktimisierung verhindern

Wer eine Viktimisierung proaktiv verhindern will, hat – aus taktischer Sicht – drei Optionen:

1. Don ́t be there – du bist nicht greifbar für den Täter.

2. To big to eat – du bist so groß und mächtig, dass sich der Täter den erfolgreichen Angriff nicht unbeschadet zutraut.

3. Be a hard target – du bist für den Täter nur unter für ihn riskanten Umständen und zu hohen persönlichen Kosten anzugreifen.

Die Vermittlung der hierfür notwendigen Strategien, Perspektiven und Prinzipien ist der Kern allen Tuns und Handelns eines YOU CAN FIGHT Instructors.

Die immanenten Ziele jedes YOU CAN FIGHT Trainings sind:

  • Gewalt verstehen.

  • Individuelle Verteidigung im Leben etablieren.

  • Viktimisierung verhindern.

Das Dilemma

„Tana, wenn du Menschen ermutigst, Selbstverteidigung zu lernen, um sich vor Gewalt zu schützen, dann klingt das für mich so, als wäre ein Opfer selbst schuld an seiner Lage.

Denn hätte es Selbstverteidigung erlernt, dann sagst du, wäre es ja möglicherweise kein Opfer geworden.

Diese Herangehensweise bedeutet aber doch eine Täter-Opfer-Umkehr.

Nicht das Opfer, sondern vielmehr sollten sich doch die Täter ändern.

Sie sollten lernen, dass sie die Grenzen der Opfer nicht übertreten dürfen. Denn sie tragen die Schuld und nicht die Opfer."

Oder in der Kurzfassung:

„Da das Opfer keine Schuld trägt, muss es auch nichts verändern oder einem Mensch muss nicht zugemutet werden, präventiv zu handeln, um sich vor Gewalt zu schützen.

Stattdessen muss sich die Gesellschaft ändern.

Der Täter muss sich ändern.“

Diese oder ähnliche Argumente habe ich in meiner Funktion als Ausbilderin von taktischer Selbstverteidigung schon öfter von verschiedenen Seiten gehört.

Nicht selten aus Gruppen, die sich sehr engagiert gegen Gewalt in der Gesellschaft einsetzen und nicht selten fungiert das Totschlagargument der „Täter-Opfer-Umkehr“ wie ein Instrument des Silencing.

Denn – so die Logik des Vorwurfs – wer standardmäßig fundierte Selbstverteidigungskurse als Gewaltprävention für Menschen einfordert, scheint den Opfern zumindest eine Mitschuld an ihrem Erleben zuzuschieben.

Denn diese Forderung unterstellt, sie hätten ja etwas tun können, um die Tat zu verhindern.

Eine fatale Schlussfolgerung, die Menschen in letzter Konsequenz in einer hilflosen Position verharren lässt.

Hilflos deshalb, da sie ihr Leben und Überleben, ihre körperliche und / oder sexuelle Unversehrtheit abhängig machen, von der Verhaltensänderung einer anderen Person, die möglicherweise an eben dieser überhaupt nicht interessiert ist.

Auch und gerade da das gewählte Verhalten – die Gewalt – sich ja offensichtlich auszahlt und sich damit in sich selbst bestärkt.

Zudem unterschlägt dieses Fazit auch die Erfahrung, dass Menschen, die sich gegen Übergriffe gewehrt haben, ob erfolgreich oder nicht, oftmals besser das Geschehene psychisch verarbeiten, als Menschen, die vor Angst erstarrten.

Auch bleibt die Erkenntnis unberücksichtigt, dass – zumindest im Bereich der sexuellen Übergriffe – aktive Gegenwehr häufig zum Abbruch der Tathandlung führt und nur ausgesprochen selten zu einer Erhöhung der Täteraktivitäten.

Die Schuldfrage

Doch ist nun ein Mensch schuldig, wenn er sich nicht mit Selbstschutz beschäftigt?

Ist ein Opfer schuld an seinem Leid?

Gleicht es einer Täter-Opfer-Umkehr, wenn wir darauf hinweisen, darauf aufmerksam machen, es wieder und wieder in das allgemeine Bewusstsein rufen, dass sich bestimmte Taten verhindern ließen, über die konsequente Etablierung von entsprechenden Präventionskursen?

Dass wir es durchaus in der Hand haben, ob die Kriminalitätszahlen weiter steigen, stagnieren oder sinken?

Sprechen wir hier wirklich über Schuld?

Diese Frage und der damit implizite Vorwurf, Opfer erneut zu viktimisieren, wenn wir über People Empowerment sprechen, fühlte sich für mich derart falsch und ungerecht an, dass ich eine Philosophin zu diesem Thema befragte.

Ihre Gedanken möchte ich hier frei zitieren und dir gern als Impuls zum Nachdenken mitgeben.

Wie willst du dich selbst zu den Fragestellungen positionieren?

Die Philosophin

„Man kann (kantisch) sagen, dass der Begriff der Schuld gegenüber den Opfern im Falle eines Übergriffs vollkommen unangemessen ist, da die Opfer ja moralisch nichts Falsches tun.

Sie überfallen niemanden, das tut der Täter.

Dennoch leben wir ja nicht in einer perfekten Welt.

Im Rahmen meiner Verantwortung und meiner Autonomie auf "Böses" reagieren zu können, vergrößert meine Freiheit.

Denn wer sich verteidigen kann, ist weniger ausgeliefert, kann alleine nach Hause gehen, etc.

Insofern verdreht jemand den Begriff der Schuld, wenn er dir vorwirft, du würdest, mit der Forderung nach mehr Selbstermächtigung von Menschen, diese zu Schuldigen erklären.

Im Falle eines Krieges oder eines Überfalls würden sich die Herrschenden oder Politiker, die keine Strategie zur Verteidigung entwickelt hätten, dennoch schuldig machen, da sie sich (in einer Demokratie) verpflichtet haben, ihre Bürger zu schützen.

In einer Gesellschaft ohne Staat wäre zu diskutieren, ob ein Mensch gegenüber sich selbst schuldig wird, wenn er keine Strategie entwickelt hat, sich selbst zu schützen.“

Die zu klärende Frage

Und wie steht es mit der Verantwortung des Menschen sich selbst und anderen gegenüber in einer Gesellschaft, in der der Staat zwar den Schutz des Einzelnen verspricht, diesen aber eben nicht in jedem Moment gewährleisten kann?

Wie die Zahlen der aktuellen Kriminalstatistik belegen…

Mit dieser einen und wichtigen offenen Frage möchte ich dieses Thema nun auch gerne bei dir lassen.

Und vielleicht inspiriert sie dich ja, deine eigene Positionierung finden und deine Haltung zu reflektieren.

Festzustellen, wo du so stehst.

Was du so denkst.

Und vielleicht möchtest du dich hierzu auch noch mehr austauschen.

Deine eigene Einordnung treffen.

Ein Ort, an dem wir auch diese Themen diskutieren und vertiefen, an dem wir dich zu deiner eigenen Meinungsbildung in gesellschaftlichen Fragen anregen wollen, ist unsere Instructorausbildung, die weit mehr ist, als nur eine Institution zur Vermittlung von Taktiken und Techniken der Selbstverteidigung.

#menschenstarkmachen

People Empowerment ist nach wie vor unser stärkstes Tool zur Umsetzung unserer klaren Vision von starken Menschen, die eine starke Gesellschaft formen, die, „too big to eat“, Gewalttäter in ihre Schranken weist.

Weil die Kosten für Tätergewalt zu hoch werden.

Weil Tätergewalt weniger erfolgreich und damit seltener bestärkt wird.

Weil starke Menschen kein „easy target“ mehr darstellen.

Weil starke Menschen verstehen, dass sie Gewalt eben nicht hilflos ausgeliefert sind.

Dass sie Verantwortung tragen (nicht Schuld) für sich und ihr Leben und das Leben ihrer Liebsten.

Und dass sie es sich zutrauen, das Übel anzusehen, die Hände zu senken vor den Augen.

Weil sie verstehen, dass Gewalt angesehen werden will.

Deine Stimme

Ein etwas längerer Text, ich gestehe. Und ein Thema, das mich sehr beschäftigt.

Ich danke dir, dass du mir bis hierhin gefolgt bist, in unserer schnelllebigen Zeit.

Es gibt Menschen, die mir gegenüber anmerken, wie sinnlos es ist, heutzutage noch längere Artikel zu entwerfen.

Und vielleicht mögen sie Recht haben.

Doch dieses Thema ist zu wichtig, DU bist mir zu wichtig, als dass ich es nicht darauf ankommen lassen würde.

Und wenn nur DU bis hierhin mitgegangen bist, dann ist es mir das Wert gewesen.

Denn in der Selbstverteidigung geht es immer um Menschen.

Menschen wie dich.

Und genau DU zählst.

Doch nun bist auch Du an der Reihe und ich begebe mich auf die Seite der Zuhörenden und Lesenden.

Teile gerne deine persönlichen Gedanken zu den Themen Gewalt, Schuld und Verantwortung, indem du auf den Newsletter antwortest.

Ich freue mich sehr von dir und deinen Gedanken zu hören.

Become a hard target!


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